
Im Februar bei garantierten 21°C in Deutschland laufen, klingt unmöglich, ist aber beim Kristallmarathon im Wartburgkreis (Rhön) möglich. So war ich am Sonntag um 8:00 Uhr an den Toren des Erlebnisbergwerks Merkers, einem stillgelegten Salzbergwerk, um meine Startunterlagen zu holen und kurze Zeit später, bepackt mit Helm und Brustlampe (Pflichtausrüstung), 500 m in einem Förderkorb nach unten zu fahren. Keine zwei Minuten dauerte die Abfahrt, und wir befanden uns im Eingangsbereich, um auf Besucherfahrzeuge umzusteigen. Die Besucherfahrzeuge sahen aus wie überdimensionierte Pick-up-Trucks, wo ich und 30 andere gemeinsam auf der Ladefläche Platz nahmen. Die Fahrt selbst war wie die Abfahrt ein eigenes Spektakel. Der Fahrer raste durch die engen und kurvenreichen Höhlen. Ich bekam einen ersten Eindruck, warum es eine Helmpflicht gab. Im Großbunker angekommen, der selbst 250 m lang, 22 Meter breit und bis zu 17 Meter hoch ist und früher als Zwischenlager für bis zu 50.000 Tonnen Rohsalz diente, waren das Staunen und die Vorfreude auf den anstehenden Marathon groß. Zwischenzeitlich hatten wir unsere Jacken und Pullis in unsere Rucksäcke gepackt, denn hier unten hatte es tatsächlich mollig warme 21°C bei einer Luftfeuchtigkeit von 30 %. Die Zeit bis zum Start verging mit Toilettengang, Warmlaufen und einer beeindruckenden Lasershow wie im Flug, und ehe ich mich versah, hörte ich schon den Countdown von 10 herunterzählen.

Gestartet bin ich fast ganz vorne aus der dritten Reihe, da die Gänge schmal sind und ich mir eine Platzierung in den Top 10 offenhalten wollte. Kaum war der Startschuss für den Halb- und Marathon gefallen, ging es in einem Affenzahn los. Ich sortierte mich an ungefähr Position 20 ein und verwarf meine Top-10-Ambition schnell. Da es unter Tage kein GPS gibt, war die Paceanzeige meiner Hightechuhr heute eher kein Anhaltspunkt. Keine 200 m nach dem Start kam nach einer Kurve mit der ersten Steigung der erste von zwei Verpflegungspunkten auf der Strecke. Diesen ließ ich jetzt noch aus, es sollte aber heute auch das einzige Mal sein, dass ich an diesem vorbeirannte. Das Tempo war hoch, und ich merkte, dass ich das Tempo so wohl keinen Marathon durchhalten würde. Es ging hoch und runter, rechts und links und wieder von vorne. Es hatte ein bisschen was von Achterbahnfahren. Zur Pflichtausrüstung gehörte auch eine Stirn- oder Brustlampe. Ich merkte aber schnell, dass das Licht der spärlich gesäten Deckenlampen gerade so fürs Laufen ohne eigene Lampe ausreichte, und entschied mich, mein eigenes Licht auszulassen, da mich das Geflacker nervte. Gelaufen wurde im Übrigen auf einer ca. 3,3 km langen Runde mit reichlich 60 Höhenmetern pro Runde. Nach der ersten zu schnellen Runde sah ich auf der Leinwand mit den Live-Ergebnissen, dass ich auf Platz 5 war, und sah auch, dass der 4. und 3. nur wenige Sekunden vor mir waren. Die durchschnittliche Pace von 3:53 min/km realisierte ich erst jetzt wirklich.

Ich lief die zweite Runde etwas langsamer als die erste, trotzdem lief ich auf einen mir bekannten Läufer, Daniel Nähr von den Herrieder Aquathleten, auf und unterhielt mich auf der Runde mit ihm, allerdings konnte er bald die von mir angeschlagene Geschwindigkeit nicht mehr folgen und ließ abreißen. Schon auf der zweiten Runde erfolgten die ersten Überrundungen, die auch bis zum Schluss nicht mehr aufhören sollten. Teils war es so eng, dass selbst Slalomlaufen nicht mehr half und ich mir die nächsten Stunden mit Rufen Platz verschaffen musste. Der ein oder andere unbeabsichtigte Rempler blieb leider nicht aus, ich hoffe aber, dass meine Mitstreiter mir das nicht übelnahmen. Die Luft war trocken, und durch die warme Umgebungsluft floss der Schweiß in Strömen. Schnell merkte ich, dass heute die Flüssigkeitsaufnahme Trumpf war und nahm nur auf den ersten Runden die Wasserbecher im Vorbeilaufen an den Verpflegungsstellen an. Durch das ständige Überholen, Abbremsen in Kurven und Steigungen, sowie Beschleunigen an Gefällen und Stehenbleiben an Verpflegungsstationen (zwei pro Runde) verlor ich völlig die Übersicht.
Auf der 4. Runde lief ich auf einen schnelleren Läufer auf und fragte, ob er der 3. des Marathons sei, worauf er erwiderte: „Eigentlich bin ich Zweiter“. Scheinbar hatte ich irgendwann einmal Platz 3. überholt, ohne es zu merken. Ich freute mich über die hervorragende Platzierung und träumte schon von einem Platz auf dem Podest. Auf der siebten Runde lief ich von hinten auf den mit uns angereisten Michael Knitsch (Ilshofen) auf und fragte mich, wie es sein konnte, dass der Halbmarathon 7 Runden hatte und der Marathon nur 13! Die Frage sollte mich noch bis zum Schluss beschäftigen und später eine Rolle spielen. Die siebte Runde beendete ich nach 1:37 h und dachte mir, der Halbmarathon hätte heute auch gereicht, so sehr setzten die steilen An- und Abstiege den Muskeln zu. Auch der Untergrund war nicht ganz eben, sodass ich immer wieder seitlich leicht umknickte. Mit meinen Gedanken war ich aber bei weitem nicht allein, denn von den 225 Marathonis entschieden sich am Ende knapp 40 davon, die Möglichkeit des Ausstiegs beim Halbmarathon zu nutzen.
Ich versuchte, weiter meinen Stiefel zu laufen, was mir von Runde zu Runde schwerer fiel. Meine Gedanken schweiften immer wieder beim Blick auf den teils durch das Salzgestein spiegelnden Untergrund ab. Aber am Ende jeder Runde kam eine ungefähr 300 m lange Wendepunktstrecke, wo ich immer wieder nach einem schnellen Läufer Ausschau hielt, aber den Erstplatzierten bekam ich leider nie zu Gesicht. Nach 10 Runden sah ich Michael Knitsch im Start-Ziel-Bereich und fragte, wie viel Rückstand ich auf Platz 1 und wie viel Vorsprung auf Platz 3. hatte. Woraufhin ich erst erfuhr, dass ich der Erstplatzierte war. Ich konnte es fast nicht glauben, mein erster Gesamtsieg bei einem Hauptlauf überhaupt und dann auch noch bei der Königsdisziplin Marathon, rückte in greifbare Nähe. Das gab meinen geschundenen Muskeln einen Schub, der aber nur kurz anhielt. Ab Kilometer 35 schlug nicht der Mann mit dem Hammer zu, aber dafür machte der Oberschenkelmuskel zu und begann ständig zu krampfen. Ab jetzt hieß es, mit Bedacht die Steigungen hoch und runter zu laufen und die Arschbacken zusammenzukneifen. Die Kilometer wurden gefühlt immer länger, und ich überschaute die Streckenführung immer noch nicht. Bis zum Schluss erwartete mich nach jeder Kurve eine Überraschung. Allerdings machte anfangs der 12. Runde auch noch der andere Oberschenkel, aber dieses Mal die Rückseite, zu.
Erst auf dieser Runde realisierte ich, dass der Halbmarathon mehr als 21,1 km, nämlich 23,1 km, hatte und somit ergab es auch Sinn, dass der Marathon nur 13 Runden hatte. Ich biss die Zähne zusammen und kämpfte mich von Kilometer zu Kilometer, von Verpflegungspunkt zu Verpflegungspunkt und hoffte, dass mein Vorsprung trotz abnehmender Pace reichen würde. Die letzten beiden Runden gönnte ich mir Cola anstatt Wasser und verlor beim hastigen Trinken mit Kopf im Nacken fast das Gleichgewicht. Endlich die letzte Runde, endlich der letzte Verpflegungspunkt, endlich das letzte Mal schmerzhaft am Wendepunkt abbremsen und wieder antreten. Das Ziel in Sichtweite, bekam ich von meiner Freundin Tanja Schienagel und Michael Knitsch entgegengerufen: „Auf geht’s, letzte Runde…“. Ich war geschockt und erwiderte: „Verarscht mich nicht, ich kann nicht mehr…“. Doch die zwei waren sich ganz sicher, denn sie hatten bei der Zeitnahme und einem Streckenposten am Ziel gefragt: „Du musst noch eine Runde“. Das gab mir den Rest. Bis gerade eben war ich noch auf einen heroischen Zieleinlauf gepolt und war jetzt ein Häufchen Elend. Wie sollte ich diese unendlich lange und harte Runde, die ich bereits 13-mal gelaufen war, auch noch nur ein einziges Mal schaffen? Egal, auf Platz 1 liegend wird nicht aufgegeben, und so trieb ich mich auch noch ein weiteres Mal über die Strecke, ehe ich wirklich völlig entkräftet tatsächlich ins Ziel einlief und reichlich zur Belustigung beitrug, dass ich völlig umsonst eine Ehrenrunde gedreht hatte. Platz 2 und 3 waren auch schon da waren. Ich warf entnervt den Helm auf den Boden, ehe mich meine Freundin mit einem Siegeskuss abholte und daran erinnerte, dass ich gerade den Marathongesamtsieg geholt hatte. Vor 15 Jahren hatte ich von so einem Moment geträumt, ohne Anspruch zu haben, dass er jemals wahr werden könnte. Umso schöner fühlt es sich an, diesen Moment mit meiner Liebsten teilen zu können ! Ich bin am Ende dankbar für dieses außergewöhnliche Abenteuer und das schöne Ende!
Ein toller Beeicht!
Gratuliere zu dieser außergewöhnlichen Leistung.
Sportliche Grüße
Paul